Wieviel Kulturgut tut einer Kultur gut ?
Dem ungebremsten Anwachsen von Sammlungen stehen zwei wichtige Faktoren entgegen: die knapper werdenden finanziellen Mittel der öffentlichen Hand zur Erhaltung, Pflege, Erforschung und Nutzung der Sammlungsobjekte sowie die stark zunehmenden Aufwendungen, vor allem getrieben durch die stetig steigenden Technik- und Energiekosten. Zukünftig wird die Sammlungstätigkeit daher nicht mehr nur vom Wunsch nach Vergrösserung und Vervollständigung einer Sammlung geprägt sein, sondern die Frage nach der Tragbarkeit der nötigen Infrastruktur wird an Bedeutung gewinnen. Kann der angemessene Betrieb einer Infrastruktur nicht gewährleistet werden, müssen neue Strategien gefunden und umgesetzt werden, um das Gesamtziel – die Überlieferung von relevantem Kulturgut an künftige Generationen – nicht zu gefährden. Die aktive Bewirtschaftung von Sammlungen, mithin auch deren Reduktion zugunsten des Gesamten, ist eine denkbare und zukunftsweisende Strategie. Jede Erweiterung der Depotkapazität muss daher einhergehen mit der Überprüfung der eigenen Sammlungsstrategie und deren langfristigen operativen Umsetzbarkeit.
Zentraldepot der Landeshauptstadt München, mit Hinweisschild vom Oktoberfest.
WACHSTUM – WEGZUG AUS DEN ZENTREN
Am Anfang jeder Sammlung stehen einige wenige Objekte. Diese lassen sich auf beschränktem Raum – oft in privaten Räumen – unterbringen. Durch Neuzugänge wächst die Sammlung, wodurch auch deren Unterbringung sich allmählich verändert. Nach und nach beansprucht die Sammlung mehr Raum, der durch zusätzliche Räume oder Verdichtung bereitgestellt wird. Nicht alles ist nun gleichzeitig sichtbar, und es erfolgt zunehmend eine Trennung zwischen Ausstellung und einem allmählich sich verdichtenden Depot. Mit wachsender Sammlung werden in weiteren Schritten auch Ausstellungs- und Arbeitsräume sowie verfügbare, aber zuweilen ungeeignete Flächen wie Keller, Dachboden oder Flure als Depots genutzt. Später werden auch externe Räume bezogen. Im Idealfall kann eine Institution ihren zunehmenden Platzbedarf durch An- oder Neubauten vor Ort decken. Infolge gestiegener Boden- und Immobilienpreise in den Innenstädten lassen sich derartige Depoterweiterungen jedoch in jüngster Zeit nicht mehr in gewünschtem Masse umsetzen. Depot- und Infrastrukturbereiche werden daher zunehmend in Vororte ausgelagert, oft zugunsten zusätzlicher Ausstellungsflächen am Hauptstandort. Dadurch wird die oft angestrebte örtliche Einheit von Aufbewahrung, Pflege, Erforschung und Ausstellung der Sammlungen immer mehr aufgelöst.
DIE ERNÜCHTERUNG NACH DER EUPHORIE
Der Euphorie der publikumswirksamen Museumserweiterungen in den vergangenen Jahrzehnten folgt die Ernüchterung, den Betrieb mit knapper werdenden Mitteln bei gleichzeitig steigenden Energiekosten aufrechterhalten zu müssen. Mit immer grösser werdenden Häusern und Sammlungen wird auch deren Betrieb immer aufwendiger und teurer. Viele Museen versuchten in den vergangenen 20 Jahren das Problem der Unterbringung ihrer Sammlungen durch neue Zentraldepots zu lösen, um dezentrale Mietobjekte abzulösen und die betrieblichen Abläufe wieder zu optimieren. Dank der um die Jahrtausendwende relativ guten finanziellen Lage der öffentlichen Hand wurden Depots sorglos und im Hinblick auf großzügig prognostizierten Zuwachs geplant und gebaut, wobei die langfristigen Betriebskosten in der Planung kaum je eine Rolle spielten. Wachstum, angemessene Größe, Zusammensetzung und Qualität der Sammlungen wurden kaum je hinterfragt. Zu eng werdender Depotplatz führte stets zur Erschließung weiterer Flächen. Dieses «sorglose Wachstum » ist in vielen Museen zu Ende, und neue, langfristig angelegte Strategien im Umgang mit Sammlungen und Ressourcen aller Art sind gefragt.
MUT ZUM RISIKO GEHÖRT ZUR NACHHALTIGKEIT
Mit zunehmendem Sammlungsumfang bildet der eingelagerte und dadurch nicht permanent sichtbare Bestand einen immer größeren Anteil einer Sammlung. Bei großen Institutionen kann der deponierte Sammlungsbestand zuweilen über 95 Prozent betragen. Gleichzeitig sind die verbleibenden ausgestellten Objekte meistens die Hauptstücke einer Sammlung, die von Besucherinnen und Besuchern sowie Ausstellungsmacherinnen und -machern immer wieder gewünscht werden. Daraus ergibt sich, dass die Nutzungswahrscheinlichkeit1 deponierter Objekte mit abnehmender Bedeutung drastisch sinkt. Ein Großteil der Sammlungsstücke hat tatsächlich kaum eine Chance, je ausgestellt zu werden, und besitzt in erster Linie dokumentarischen oder vervollständigenden Charakter. Kulturgüter werden mit oft zweifelhaften Begründungen gehortet, anstatt als Sammlungen bewirtschaftet und genutzt. Die Aufnahme eines Objekts in eine Sammlung bedeutete meist, das Objekt bedingungslos zu bewahren und nicht mehr aus der Sammlung zu entlassen. Vielfach ist diese Haltung nicht – wie oft vorgeschoben – rechtlich begründet. 2 Vielmehr ist sie dem Unvermögen (oder dem Unwillen) Verantwortlicher geschuldet, eine Sammlung aktiv zu bewirtschaften, Entscheide über den Verbleib eines Objekts in der Sammlung zu treffen und dadurch vertretbare Risiken zugunsten der langfristigen Entwicklung und Erhaltung der Gesamtsammlung einzugehen. Die Maxime lautet: Lieber alles aufbewahren, als das oft als persönlich empfundene Risiko einer Fehleinschätzung beim «Entsammeln» eines Objekts tragen zu müssen. Es ist unbestritten, dass bei jedem Entsammlungsprozess ein gewisses Risiko der Fehleinschätzung besteht. Diese ist jedoch verhältnismäßig selten und ein Abgang aus der Sammlung kaum schwerwiegend im Sinne eines einschneidenden oder existenzbedrohenden Verlusts für die Institution. Selbst bei einem Fehlentscheid ist anzunehmen, dass man mit der veränderten Ausgangslage durchaus leben kann, zumal ein unerkanntes Objekt von begründbarer Qualität oder Bedeutung über kurz oder lang erneut seinen Weg in eine Sammlung oder ein Museum finden wird. Die erhöhte Wertschätzung in einem anderen Kontext kann sogar ein Glücksfall sein, wenn dadurch die langfristige Erhaltung des Objekts gesichert wird. Hingegen kann ein in seiner Qualität oder Bedeutung nicht erkanntes Objekt in einer Sammlung durch Vernachlässigung in seiner langfristigen Erhaltung gefährdet sein. Einen Sonderfall bilden Objekte und Artefakte, die in großen Mengen vorhanden sind. Deren Entlassung aus einer Sammlung und damit aus einem gewissen Kontext kann zur Bedeutungslosigkeit, Marginalisierung oder gar Entsorgung der Objekte führen. Als Argument gegen eine Entsammlung solcher Konvolute wird angeführt, dass ein Artefakt oder Objekt noch nicht seine gesamte Information preisgegeben hat und durch zukünftige verfeinerte Methoden weitere Erkenntnisse zu gewinnen sein könnten. Diese Haltung führt dazu, dass der Anteil an unbearbeitetem oder unausgewertetem Material in den Depots stetig zunimmt und die Aufarbeitung mit zunehmendem Aufschub immer schwieriger wird. Es ist nicht anzunehmen, dass diese Situation sich in näherer Zukunft grundlegend ändern wird. Die Masse muss daher zugunsten des Gesamten auf ein tragbares, letztlich auch der Öffentlichkeit begründbares Maß reduziert werden.3 Mit zunehmenden Beständen ist dies überlebensnotwendig, um langfristig Ressourcen für die prioritären Aufgaben und die relevanten Sammlungsbestände verfügbar zu haben. Selbst der Verlust eines Quäntchens an Information im Detail mag den frühzeitigen Verlust des Gesamten durch Vernachlässigung nicht aufzuwiegen.
ERSTICKEN AM BESTAND
Die heute weit verbreitete Risikoscheu im aktiven Umgang mit Sammlungen führt zu stetig weiter anschwellenden Sammlungsbeständen und in nicht allzu ferner Zukunft mutmaßlich zu dem, was man als «Ersticken am eigenen Bestand» bezeichnen könnte. Zu viele Objekte schlummern in den Archiven und Depots und entsprechen nur ungenügend einer schlüssigen Sammlungsstrategie. Bei zunehmend angespannter Finanzlage binden diese Bestände wertvolle Ressourcen, die letztlich nicht ausreichen, das Notwendigste für die nachhaltige Aufbewahrung und Pflege der Gesamtsammlungen umzusetzen. Strategielos wachsende Sammlungen können zum Problem für kommende Generationen werden, welchen es zunehmend schwerer fallen dürfte, die erforderlichen Mittel bereitzustellen. Die wenig sichtbaren Bestände in den Depots und deren Pflege werden am ehesten auf der Strecke bleiben.
SAMMLUNGSSTRATEGIE ALS PLANUNGSGRUNDLAGE
Eine maßvolle und vorausschauende Sammlungspolitik zielt darauf ab, die Sammlung mit den vorhandenen Mitteln thematisch zu fokussieren, langfristig zu erhalten und qualitativ zu verbessern. Eine Sammlung darf daher nur so groß sein, wie deren Erhaltung und Aufbewahrung auch nachhaltig gesichert sind. Selbst verlockende Angebote zur Sammlungserweiterung sind dann auszuschlagen, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind. Alternativ kann ein Bestand aktiv bewirtschaftet werden, indem für die Gesamtsammlung weniger bedeutende Bestände abgestoßen werden, um andere Schwerpunkte auf- und auszubauen. Dies erfordert begründbare, zuweilen mutige Entscheide im Sinne eines kohärenten Ganzen.
MUSEUMSDEPOT UND MUSEUMSSTRATEGIE
Ein Museumsdepot ist kein Ort, um unreflektiert und strategielos Objekte zu horten. Vielmehr ist es jenes Gefäß, aus welchem die identitätsbildenden Aktivitäten eines Museums gespiesen werden. Es ist zudem eine der zentralen Grundlagen, um dem klassischen Museumsauftrag «Sammeln – Bewahren – Erforschen – Vermitteln» angemessen nachzukommen. In Anbetracht dieser engen Verknüpfung der Depots mit dem Museumsbetrieb muss einerseits die Depotfrage ein integraler Teil der Museumsstrategie sein; andererseits muss die Sammlungsstrategie die Grundlage jeder Depotplanung sein, da nur so die effektiven und damit die langfristig tragbaren Bedürfnisse fass- und quantifizierbar werden.
WENIGER IST MEHR
Bevor die Erweiterung eines Depots realisiert werden kann, ist eine durchdachte Sammlungsstrategie gefragt, welche nebst dem kulturhistorisch Wünschbaren auch das in der Realität langfristig durch die Institution und ihre Trägerschaft Bewältigbare mit einbezieht. Nicht mehr die Frage der technischen Machbarkeit hat im Vordergrund zu stehen, sondern die Frage nach Angemessenheit und Tragbarkeit. In diesem Sinne ist der Begriff «Horizont 100» zu verstehen. Hierbei wird die Fragestellung der Kulturgütererhaltung von hinten aufgerollt: Was ist heute zu tun, um in 100 Jahren möglichst viel relevantes Kulturgut verfügbar zu haben? Die Fokussierung und Reduktion der Sammlungsbestände und die nachhaltige Gestaltung der Aufbewahrung kann eine der möglichen Strategien hierfür darstellen.
ANMERKUNGEN
1 Unter der Nutzungswahrscheinlichkeit ist die Gesamtheit der Zugriffe auf ein Objekt zu verstehen, sei dies für die wissenschaftliche Forschung, Ausbildung oder für Ausstellungen.
2 Im Gegensatz zum Archivbereich, wo jeweils kantonale Gesetze die Erhaltung bestimmter Bestände über einen definierten Zeitraum vorschreiben, existieren in der Schweiz keine analogen Gesetze für bewegliche Kulturgüter. Existierende Gesetze (z.B. Natur- und Heimatschutzgesetz SR 451) fordern den Schutz, die Pflege und die Aufbewahrung der als schützenswert bezeichneten Objekte, geben aber immer auch die Möglichkeit, über definierte Prozesse Objekte zu deklassieren. Analog dazu empfiehlt der internationale Museumsverband ICOM international in seinem Code of Ethics (2013) in den Abschnitten 2.12 bis 2.17 ein klar strukturiertes Vorgehen beim Umgang mit Entsammeln, verbietet dieses aber nicht. Eine juristische Einschränkung der Entsammlungsmöglichkeit kann also einzig aus rechtlichen Grundlagen der einzelnen Museen hervorgehen (Stiftungsurkunden, Statuten, etc.).
3 Dies ist die grundsätzliche Arbeitsweise von Archivaren und Archäologinnen.
Autor: Dr. phil. Joachim Huber, Kunsthistoriker und Museumsplaner, beschäftigt sich seit 1997 mit der Planung, Einrichtung und Bewirtschaftung von Museumsdepots. Zunehmend treten dabei auch strategische Fragen der langfristigen Erhaltung von Kulturgut in den Vordergrund.
In: Museums.CH 09/2014, Zeitschrift des Verbands der Museen der Schweiz und ICOM Schweiz, S. 18-25.
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