Werden Normen den spezifischen Anforderungen der Kulturgüter-Erhaltung gerecht?
Im Zusammenhang mit Qualitätssicherungsmassnahmen wird auch im Bereich der Kulturgüter-Erhaltung der Ruf nach Normen immer lauter. Eine Entwicklung, welche kritisch zu hinterfragen ist, da Regelungen geschaffen werden, welche die Lösungsfindung zum Teil eher behindern, als dass sie zur zweckmässigen Lösung des Problems beitragen.
Es scheint sinnvoll, zunächst die immer wieder schlagwortartig verwendeten Begriffe zu definieren. Eine (technische) Norm ist eine allseits rechtlich anerkannte und durch ein offizielles Normungsverfahren beschlossene, allgemeingültige sowie veröffentlichte Regel
zur Lösung eines Sachverhaltes. Voraussetzung für eine technische Norm ist, dass sie technisch ausgereift ist und einen Nutzen für den Anwender hat. Normungsverfahren können auf nationaler oder auf internationaler Ebene von anerkannten Normungseinrichtungen wie zum Beispiel der Schweizerische n Normenvereinigung SNV, dem Deutsche n Institut für Normung DIN oder dem Comité Européen de Normalisation CEN erarbeitet werden.
Eine Richtlinie ist eine Handlungsvorschrift bindenden Charakters, aber nicht gesetzlicher Natur. Sie wird von einer Organisation ausgegeben, und letztere kann bei einem Verstoss auch Sanktionen gegen ihre Mitglieder ergreifen.
Eine Leitlinie oder Empfehlung ist schwächer als eine Richtlinie. Sie spiegelt die allgemein akzeptierten Standards.
Erschwerend kommen die aus dem Englischen stammenden und oft falsch eingesetzten Begriffe Standard und Guideline hinzu. Im Englischen gibt es einerseits den «de facto
standard», der dem deutschsprachigen «Industriestandard» entspricht und ein herstellerspezifisches, freiwillig, aber weit verbreitet angewendetes pragmatisches Regelwerk bedeutet. Andererseits bezeichnet der englische «de jure standard» eine gesetzlich verbindliche Norm. Der Begriff Guideline wird in deutschsprachigen Texten entweder als Richtlinie oder als Leitlinie/Empfehlung verwendet. Der Begriff der Norm wird umgangssprachlich oft fälschlich für Richtlinien und Empfehlungen verwendet.
Reglementierungen im Kulturgüterbereich
Eine technische Norm hat den Zweck, wiederkehrende gleichartige Vorgänge zu vereinheitlichen mit dem Ziel, dem Nutzer erhöhte Sicherheit, Zuverlässigkeit, Reproduzierbarkeit und garantierte Funktionsweise/Eigenschaften zu bieten. Im Bereich der Kulturgüter-Erhaltung handelt es sich in den meisten Fällen jedoch gerade nicht um einen immer wiederkehrenden gleichartigen Vorgang und schon gar nicht um homogene und reproduzierbare Objekte, die rezeptartiges Handeln ermöglichen würden. Die Komplexität von Kulturgüter-Erhaltung als Aufgabe sowie die je nach Standpunkt unterschiedlichen Auffassungen von Kulturgüter-Erhaltung im Allgemeinen lassen keine universell einsetzbaren und verbindlichen Verfahren zur Erhaltung, Pflege und Nutzung
von Kulturgut zu. Dennoch wird zunehmend versucht, einzelne Aspekte verbindlich festzulegen und in ein starres Normenkorsett zu zwängen. Oft werden dabei Einzelaspekte losgelöst vom Kontext betrachtet und herausgegriffen, ohne die Gesamtproblematik genügend zu berücksichtigen. Dies widerspiegelt die Tatsache, dass die heutige Gesellschaft Mühe bekundet, komplexe Probleme gesamthaft anzugehen, und zunehmend das Gewicht auf die (einfachere) Betrachtung von abgrenzbaren Einzelaspekten legt. Durch die Beschäftigung mit Teilbereichen gerät das Gesamte allzu oft aus dem Blickfeld. Während bisher vor allem regionale oder nationale Bemühungen um Vereinheitlichung bestanden, welche in mehr oder weniger praxisnahen Richtli nien und Empfehlungen
mündeten – etwa die Vergabe von Konservierungsaufträgen, die Dokumentation von Konservierungen, die Archivierung und jüngst auch die Konservierung einzelner Objektgruppen (Richtlinien zur Erhaltung von Glasmalereien) –, sind nun auch
Bestrebungen im Gang, zahlreiche Bereiche der Kulturgüter-Erhaltung europaweit mit verbindlichen EU-Normen zu reglementieren. Diese Normen werden nicht nur die durchaus sinnvollen Bereiche der naturwissenschaftlichen Analytik oder der Materialprüfung umfassen, sondern sollen unter anderem explizit Vorgaben zur Konservierungsmethodik machen. Die Gefahr besteht, dass Normen und enge Richtlinien ein unreflektiertes, rezeptmässiges Vorgehen fördern, bei welchem ohne umfassendes Einbeziehen und Abwägen aller möglicher Nutzen und Risiken für die Kulturgüter gehandelt wird.
Das technische Komitee 346 (TC 346) des Europäischen Komitees für Normen arbeitet bereits an den Normen für mobile und immobile Kulturgüter. Eine Verweigerungshaltung im Sinne von «wir wollen keine Normen» ist daher nicht mehr angebracht. Vielmehr sollte über die in der Schweiz und einigen anderen Ländern eingerichteten so genannten Spiegelgremien der Verlauf des Normungsverfahrens eng beobachtet und sinnvoll kommentiert werden. Zudem sollte in der interessierten Öffentlichkeit eine Grundsatzdiskussion angestossen und daraufhin gearbeitet werden, nicht noch mehr rechtlich verbindliche Normen und Reglemente zu schaffen, sondern Empfehlungen und Hilfestellungen zum Entscheidungsprozess zu bieten.
Was die Kulturgüter-Erhaltung braucht
Für die Kulturgüter-Erhaltung sollten in erster Linie klare Zielvorgaben den Rahmen für das ethisch und fachlich begründete Handeln abstecken. Auch diese Zielvorgaben sind zeit- und kulturabhängig und müssen regelmässig hinterfragt und dem gegenwärtigen
Wissensstand angepasst werden. Klare Ziel- und Prioritätensetzungen können helfen, in der Gesamtheit der zu erhaltenden
Kulturgüter eine Leitlinie zu schaffen und Ressourcen effektiv im Sinne der langfristigen Erhaltung von Kulturgut einzusetzen. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass unter Berücksichtigung der Gesamtsituation Risiken in Kauf genommen werden müssen, welche im Einzelfall kaum toleriert würden. Der Blick auf das Einzelne hat immer vor dem Hintergrund des Gesamten und der vorhandenen Möglichkeiten zu erfolgen. Für das einzelne Objekt, das oft ein Unikat darstellt, müssen durch ausgebildete Fachpersonen verschiedenster Fachbereiche die unterschiedlichsten Aspekte erfasst und beurteilt werden. Aufgrund allgemeiner und objektspezifischer Zielvorgaben – wie wird beispielsweise das Objekt künftig aufbewahrt, ausgestellt, genutzt? – können sodann Erhaltungsmassnahmen im weitesten Sinne bzw. Nutzungen festgelegt sowie deren Nutzen und Risiken im Gesamtzusammenhang zum Beispiel eines Gebäudes, eines Museums, einer Sammlung oder einer Ausstellung evaluiert werden. Dieser Vorgang basiert auf grosser Sachkenntnis, langjähriger Erfahrung sowie einem breiten Wissenshorizont und kann durch Normen nicht ersetzt werden. Lösungen und Entscheide zum Kulturgut sind immer abhängig von spezifischen Umgebungsbedingungen (Klima, Licht, Nutzung etc.) vom Umfeld (Kulturverständnis, Politik, soziologisches Umfeld, Zeitgeist) und von den vorhandenen Ressourcen (Material, Techniken, Know-how, Geld, Personal). Im Rahmen der Kulturgüter-Erhaltung scheint es daher we nig sinnvoll, mit verbindlichen Normen festzulegen, wie eine Massnahme zu erfolgen hat und so den Handlungsspielraum qualifizierter Fachkräfte einzuengen bzw. nicht umsetzbare – zum Beispiel nicht finanzierbare – Forderungen aufzustellen. Vielmehr sind grundsätzliche Leitlinien und Empfehlungen auf der Höhe des aktuellen Wissens gefragt, um adäquate Lösungen zu finden und in der geforderten Qualität umzusetzen. Mittels Checklisten und Entscheidungsbäumen kann beispielsweise sichergestellt werden, dass kein wichtiger Aspekt in der Risikoabwägung und Entscheidungsfindung vergessen wird. Nicht die Lösung ist vorzugeben, sondern das ethisch begründbare Ziel der Massnahme. Dieses Ziel sollte bezüglich der konkreten Situation das Optimum im Gegensatz zum oft geforderten Maximum darstellen
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